Hitlers Hoden oder „Wie Nichtvorhandenes die Geschichten über Geschichte bestimmt“

Nach der Vorstellung der Quellenedition von Peter Fleischmann „Hitler als Häftling in Landsberg am Lech 1923/24“  (Der Gefangenen-Personalakt Hitler nebst weiteren Quellen aus der Schutzhaft-, Untersuchungshaft- und Festungshaftanstalt Landsberg am Lech) am 19.12.2015 im Hauptstaatsarchiv in München reagierte die Presse prompt und berichtete.
Die Quellenedition enthält nämlich den Untersuchungsbericht des Amtsarztes Dr. Josef Brinstein, der bei Adolf Hitler bei der Aufnahmeuntersuchung in der Haftanstalt in Landsberg am 11.11.1923 einen sogenannten Kryptorchismus, im Volksmund wohl auch „Schlupfhoden“ genannt, diagnostizierte (Ibid., S. 416, Anmerkung 10).

Hitlers Hoden und die Presse

Die meisten Online-Beiträge berichteten daraufhin im Wesentlichen über die Tatsache eines fehlenden Hodens, das Lied der englischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg darüber, den Scherz den Harald Schmidt über Hitlers „Klöten“ gemacht hatte und – als sprachliches Bonmot – über die unzureichende „Behodung“ (sic!) Adolf Hitlers.

Hitlers Hoden und unser Geschichtsbild

Hat man angesichts einer solchen Berichterstattung die Sprache wieder gefunden, stellt sich die Frage, inwieweit die Kenntnis dieses Details tatsächlich zur Erhellung der Geschichte des Nationalsozialismus beiträgt.
Während sich nun die „Hochpresse“ – wohl dem Diktat der Klickzahlen beugend – dergestalt in anatomischen Details fehlender Organe des Hitlerschen Corpus ergeht, sei hier bescheiden und erdverbunden darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus sich historisch wohl nicht nur in den Personen der Parteigrößen manifestierte, sondern eben auch ein Phänomen der Fläche war. Das hatte Goldhagen ja schon 1996 in seinem nicht unumstrittenen Buch „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ dargestellt.
Wie auch immer, die nach Publikumsgunst schielende Beschäftigung und Fixierung auf besagtes Körperteil verstellt den Blick auf den eigentlichen Erkenntniswert dieser Edition.
Waren es doch die privilegierten und keineswegs normalen Haftbedingungen, die es Adolf Hitler ermöglichten, personell und konzeptionell an seinem Werk „Mein Kampf“ zu arbeiten und darüber hinaus unter den Augen der bayerischen Justiz aus dem Gefängnis heraus politisch zu wirken und sein Netzwerk auszubauen.

Der Nationalsozialismus in Franken

Deshalb sei hier – der Ausrichtung unseres Verlages entsprechend – aus fränkischer Perspektive nochmals auf zwei grundlegende Detailstudien zur Geschichte des Nationalsozialismus in Franken hingewiesen.

Willy Liebel. Hitlers liebster Bürgermeister

Matthias Klaus Braun, Hitlers liebster Bürgermeister: Willy Liebel (1897-1945), Neustadt a. d. Aisch 2012.

Die chronologisch angelegte Monographie zur Person Liebels „from the cradle to the grave“ zeichnet den Aufstieg des Nationalsozialismus auf kommunaler Ebene nach. Die detaillierte Beschreibung der Nürnberger Stadtpolitik, vor allem in der Zeit vom März bis April 1933, zeigt, mit welcher Geschwindigkeit sich die neuen Machthaber – durchaus im Sinne einer Revolution – durchzusetzen vermochten.
Liebel wurde am 18.03.1933, unrechtmäßig, vom bayerischen Staatskommisar Adolf Wagner mit der Ämterführung in Nürnberg betraut und am 27.04.1933 unter Stimmenthaltung der SPD zum Oberbürgermeister gewählt. Einige der SPD-Stadträte, die sich der Stimme enthaltend an der Wahl teilgenommen hatten, wurden noch am selben Tag kurz nach der Abstimmung in Schutzhaft genommen und nach Dachau verbracht (S. 405).
Eine umfangreiche Rezension des Werkes von Herbert Schott findet sich in den Mitteilungen des Vereins der Stadt Nürnberg, Band 100 (2013) S. 719-725.

Der Hesselberg in der Nazi-Zeit

Thomas Greif, Frankens braune Wallfahrt. Der Hesselberg im Dritten Reich, (= Mittelfränkisch Studien Band 18), Ansbach 2007.

Julius Streicher der "Frankenführer"

Julius Streicher auf einem der Hesselbergtage in Franken

Die Inszenierung völkischer „Religio“ auf dem Hesselberg war eng mit der Person des Frankenführers Julius Streicher verbunden. Streicher war es, der, nachdem er sich mit seiner DSP den Nationalsozialisten angeschlossen hatte, mit den „deutschen Tagen“, den „Frankentagen“ und den „Hesselbergtagen“ die Inszenierung einer „völkischen Kultur“ für die Massen vorantrieb.
Im Anschluss an eine detaillierte Darstellung der Biographie Streichers stellt der Autor ausführlich Vorgeschichte und Höhepunkte der Vereinnahmung des Hesselbergs durch die Nazis dar. Sonnwendfeiern, Fahnenweihen, Fackelzüge, Feuerreden usw. waren die pseudoliturgischen Bestandteile des schwülen Kultes der Nazizeit.
Die Studie zeigt aber auch die Schwierigkeiten auf, welche die Nationalsozialisten – trotz aller Zustimmung im deutschen Volk – hatten, solche Inszenierungen tatsächlich mit Leben zu erfüllen. So weist doch der Autor starke Diskrepanzen zwischen den offiziell angegebenen Besucherzahlen der Propaganda und den anhand zahlreicher Quellen recherchierten tatsächlichen Zahlen nach (S. 234ff).
Leider ist dieses grundlegende Werk zur Geschichte des Nationalsozialismus in Franken derzeit vergriffen, wird bei entsprechendem Interesse jedoch nachgedruckt werden.

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